Pure emotion around heritage, craftsmanship and innovation.
Eine Spritztour kann sehr inspirierend sein – vor allem für jemanden,
der zweifelsohne den härtesten Job in der Automobilbranche hat.
Er soll einen Bugatti erschaffen. Nicht nur irgendeinen Bugatti: den Bugatti.
TEXT: BART LENAERTS, PHOTOS: LIES DE MOL
Bugatti ist wie Fussball. Zwar spielen nur wenige in der ersten Liga, doch jeder Durschnittsfussballer hat seine eigene klare Vorstellung davon, was zu tun ist. Die Zukunft von Bugatti zu gestalten ist also eine ziemlich grosse Herausforderung, wenn plötzlich die ganze Welt jeden Schritt beurteilt und die renommiertesten Vertreter der Industrie – wie z. B. Ferdinand Piëch oder Martin Winterkorn – einem ständig über die Schulter schauen. Bugatti ist wie Rom. Wie um alles in der Welt sollte ein Architekt nicht von solch überwältigenden Bauten eingeschüchtert sein? Der heutige Bugatti-Designchef tritt in die Fussstapfen grossartiger Konstrukteure wie Ettore und Jean Bugatti, aber auch Marcello Gandini und Hartmut Warkuss. Und das Produkt seiner Fantasie muss es mit dem Veyron aufnehmen können. Der Bugatti-Designer von heute blickt auf eine schwierige Geschichte, eine unsichere Zukunft und nicht viel mehr als ein leeres Blatt Papier, um viele Fragen zu beantworten und etwas zu erschaffen, das besser, beeindruckender und ansehnlicher ist als jedes andere Fahrzeug. Der heutige Bugatti-Designer muss in der Tat eine sehr schwierige Aufgabe erfüllen. Trotzdem ist er der Einzige, der widerspricht. «Ich habe den besten Job der Welt. Ich habe grosses Glück, dass ich hier sein darf.» So entspannt ist Achim Anscheidt.
ACHIM WILL ES ENDLICH WISSEN
Zum Glück kann Anscheidt bei dieser Aufgabe von gewissen rechtlichen Vorzügen profitieren. Inspirierende Spritztouren mit einem Veyron Grand Sport und einem Atlantic vor den Toren der Bugatti-Hochburg Molsheim, zum Beispiel. Der Atlantic verkörpert Eleganz auf Rädern. Kein anderes Auto kommt der beweglichen Kunst näher. Dennoch ist er ein wildes Tier mit kräftigem Herz. Der Achtzylinder spurtet wie ein hungriges Äffchen im Bananenbaum und der Turbolader kreischt wie ein Teenager im Gruselkabinett.
Der Atlantic ist nicht für den Alltag bestimmt, denn er überhitzt schneller als die Gemüter junger Italiener auf der Reeperbahn und ist schwerer beherrschbar als die Marquise de -Merteuil in Gefährliche Liebschaften. Er wurde so konstruiert, dass er die sechs Kilometer auf der Hunaudières–Geraden bei Le Mans bewältigt, oder die 1000 Kilometer zwischen den Modevierteln in Paris und der bescheidenen Côte d’Azur. Er ist der Inbegriff der Zwischenkriegszeit, entwickelt, um den wenigen Glückspilzen zu gefallen, geschaffen, um Kunst auf die Strasse zu bringen. Weniger als eine Handvoll wurden gebaut. Gerade genug, um das potenzielle Kundenportfolio zu bedienen, mehr als genug, um ein Zeichen für die Ewigkeit zu setzen.
Er ist nicht nur der welterste Supersportwagen, sondern auch das teuerste Auto aller Zeiten. Zusammen mit dem winzigen 35 und dem bombastischen Royale ist der Atlantic einer der drei wahren Ikonen des reichen Bugatti-Erbes. In seiner Blütezeit war er doppelt so schnell wie fast alle Fahrzeuge der damaligen Zeit, und doch wurde jedes einzelne Bauteil so wunderschön gestaltet, dass kaum ein Auge trocken bleibt. Es ist fast abschreckend: obwohl es beinahe unmöglich scheint, diese einzigartige Verbindung von Leistung und Eleganz in diesem Jahrhundert noch einmal zu wiederholen, ist doch die Romantik einer majestätischen und unwiderstehlichen -Existenz vollständig verblasst. Die Grundidee eines modernen Supersportwagens setzt eine strenge und unbedingt effiziente Denkweise voraus. Und keinen künstlerischen Ansatz.
Zum Glück sind sich Anscheidt und der Atlantic da sehr ähnlich. Sie passen zusammen wie Brad Pitt und Angelina Jolie und sehen dabei noch cooler aus als James Bond und sein Aston Martin DB5. Anscheidt ist der perfekte Gentleman, verfügt aber über genau die richtige Ausbildung, um das Biest zu zähmen. Genau wie der Atlantic versteckt auch er seine Rennsportgene unter seinem eleganten, massgeschneiderten Anzug. Dabei fährt er den Atlantic, als hätte er ihn gestohlen.
«Ich bin in der Boxengasse gross geworden. Mein Vater ist in den 60er Jahren Motorradrennen gefahren und wurde in der 50-cm³-Klasse Weltmeister. Mit 12 habe ich mich zum allerersten Mal auf ein Trial-Motorrad gesetzt. Später habe ich dann als Stuntfahrer bei einem Wanderzirkus mein Geld verdient.»
Egal wie aufregend sein Leben auch gewesen sein mag, Anscheidt wusste, dass er nicht sein ganzes Leben lang im Kreis fahren konnte. Grosse Risiken, ja. Aber nur, wenn sie die Mühe wert waren.
«Im Winter studierte ich Autodesign in Pforzheim. Als der Porsche-Chefdesigner Harm Lagaay meine Arbeit sah, wollte er mein Studium in den Staaten sponsern. Richtig etwas gelernt habe ich aber bei Porsche. Das war ein wahrer Spielplatz für junge Designer! Nach drei Jahren wechselte ich zu Volkswagen. Dort war ich zuerst Leiter des Concept Car Studio in Barcelona. Dann in Potsdam. 2004 wechselte ich zu Bugatti. Ein grosser Schritt ins Ungewisse. Das Konzept für den Veyron gab es da bereits, aber niemand wusste, wie sich die Dinge entwickeln würden.»
ZIMMER MIT AUSSICHT
Der Veyron Grand Sport ist ebenfalls ein waschechter Bugatti. Er lässt jeden anderen Sportwagen mit Leichtigkeit hinter sich und befindet sich eher in einem anderen Universum. Trotzdem gehört er im Vergleich zum Atlantic zu einer anderen Spezies. Er blendet nicht mit auffälligen Details oder funkelndem Bling-Bling. Er ist genauso fortschrittlich und elektrisierend wie eine Weltraumfähre, verfügt dafür aber über einen anspruchslosen Charakter, ein stilvolles Design sowie eine perfekte Ausführung und Verarbeitung. Der Veyron Grand Sport ist ein talentierter Athlet, fast schon bionisch, und sieht dabei aber so aus wie ein Turniertänzer. Er ist schneller als ein F1-Wagen bei Höchstgeschwindigkeit, und sieht dabei aber so aus wie eine Hermès-Aktentasche im Vergleich zu einer Plastiktüte von Aldi.
«Ich bin sehr froh, dass ich als Grundlage den Veyron nutzen kann. Er hat ein so aussagekräftiges und zeitloses Design. Er unterscheidet sich von allen anderen Fahrzeugen, und doch ist er sehr einfach und schlicht.»
Obwohl es einzigartig ist, einen Atlantic durch diese anspruchsvollen Strassen zu navigieren, zieht Anscheidt ausgerechnet heute den Grand Sport vor. Nicht, um die 1000 PS oder das Drehmoment von 1200 Nm auszunutzen. Auch nicht, um von 0 auf 100 km/h in 2,5 Sekunden zu beschleunigen oder um zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn sich einem der Magen beim anschliessenden Bremsen umdreht. Nein, Anscheidt entscheidet sich eindeutig für den Grand Sport, weil er von dort aus eine besondere Sicht auf den Atlantic hat. Es ist, als ob eine Ballerina auf der Bühne des Lebens tanzt, wenn er in die Bremsen geht, um dann wie von selbst durch die engen Kurven zu gleiten. Wie bei einer Opernsängerin in der Scala hallt sein wütendes Grunzen bei der Beschleunigung auf den kurzen Geraden durch die Berge. Als würde man auf dem Rücken eines hungrigen Tigers sitzen und einer flinken Antilope hinterherjagen.
«Man sieht diese Autos so selten. Und es ist wirklich eine -einmalige Gelegenheit, eins von ihnen in seiner natürlichen Umgebung fahren zu dürfen.»
KAMPF DER IKONEN
Nachdem Anscheidt die beiden Wagen durch die Gebirgsstrassen rund um Molsheim gequält hat, drängt sich eine grosse Frage auf, die wie eine Ölglocke an die Meeresoberfläche steigt. Was passiert als Nächstes? Die Wiedergeburt des symbolträchtigen 35, so die Meinung vieler Autofanatiker.
«Um vorausschauen zu können, muss man zurückblicken», erklärt Anscheidt die Tatsache, dass man die Vergangenheit nicht ignorieren kann. «Aber der rein funktionale 35 war aufgrund seiner Rennerfolge so beliebt. Heutzutage ist die Welt des Motorsports völlig anders. Soll Bugatti einen F1-Wagen bauen, der für die Strasse zugelassen ist? Einen aufgemotzten Lotus Elise, vollgepackt mit Luxus? Einen übertriebenen Exige? Nein. Diese Argumente sind wirklich zu kurz gegriffen, um diesen Weg einzuschlagen.»
Dann vielleicht eine Neuinterpretation des barocken Royale?
«Wir haben nicht vor, das ultimative Auto zu bauen, das selbst einen Rolls-Royce Phantom übertrifft. Wir konzentrieren uns auf unsere sportlichen Gene, denn unseren Kunden gefällt es, dass wir den Galibier ganz klar als Auto positioniert haben, mit dem das Autofahren Spass macht. Heute hat Bugatti einen deutlichen USP: unseren fabelhaften W16 mit 4 Turboladern. Kein anderer bietet etwas, das dem auch nur nahekommt. Wir müssen dieses Potenzial ausschöpfen. Die Entwicklung eines jeden Bauteils und jeden Aspekts des neuen Bugatti muss genau nach diesem Motor ausgerichtet werden. So, wie es auch Jean Bugatti tat, als er den Atlantic entwarf.»
Wie wäre es dann mit einem Remake des Atlantic?
«Ich finde, der neue Galibier kommt dem schon nahe. Dort sind deutliche Designelemente des Atlantic verwendet worden, ohne dass er nach Retro aussieht. Ausserdem dienen all diese Stilaspekte nun einer bestimmten Funktion. Das typische zweifarbige Muster war in der Zwischenkriegszeit doch nur ein Designexperiment, aber heute unterteilt es die aus Aluminium und Kohlefasern gefertigte Karosserie. Es stimmt schon, dass das technische Layout des Galibier im Vergleich zum Atlantic völlig anders ist. Aber mittlerweile gibt es schon viel zu viele Sportwagen mit derselben Basis. Bugatti muss da etwas gänzlich Neues schaffen. Wir richten uns nicht nach Modetrends. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen und gehen unseren eigenen Weg. Bei Bugatti geht es um Kunst, Form und Technik. Wir müssen innovativ sein, und fast jedes Element muss Ettore in sich widerspiegeln. Wir fragen uns ständig: Wie hätte er das gelöst? Wir bauen Autos wie ein Uhrmacher. Das macht sonst keiner.»
Welche Aufgabe hat der Architekt? Neben der Frage, was -entstehen wird, muss ein anderes Thema geklärt werden. Wie wird es aussehen?
«Wie kann das Design eines Autos zeigen, wie aussergewöhnlich dieses Unternehmen ist? Ich kann es ja schliesslich nicht aus Gold machen. Und ich kann es auch nicht in Übergrösse bauen. Wie also erreichen wir teures Design, jetzt da das Gestalten so verdammt günstig geworden ist? Früher galt schönes Design als Privileg für nur einige Wenige. Im 21. Jahrhundert allerdings geht es überall um Design. Durch diese Design-Demokratisierung kann man einen wahren Meister nur in seinen Grenzen ausmachen. Ein dezentes Spiel zwischen konvexen und konkaven Oberflächen hilft. Wenn man es aber übertreibt, sieht das Metall schnell wie billiges Plastik aus. Bei Porsche habe ich gelernt, dass es möglich ist, das Metall so raffiniert zu modellieren, dass man die Lichtreflektionen an der Oberfläche bestimmen kann. Durch dieses Licht-Tuning entsteht viel Spannung und ein Gefühl von Wertigkeit. Nur sehr wenige Menschen wissen, dass fast jeder die Qualität eines Designs anhand der Lichtreflektionen beurteilt. Aber gerade weil dies unterbewusst passiert, ist es so wichtig. Die hinteren Kotflügel sowohl beim Porsche 911 als auch beim Bugatti Veyron sind da ein perfektes Beispiel. Es gibt keine einzige klare Linie. Nur runde Formen und Kurven. Andererseits hat Lamborghini genau das Gegenteil mit seiner rasiermesserscharfen Linienführung bewiesen. Das ist das Schöne am Design. Es gibt keine Regeln. Man kann sogar ein gutes Design allein beim Versuch es zu verbessern völlig zerstören», so Anscheidt, der nicht in Klischees denkt und sich weit von den typischen Äusserungen eines jeden Autodesigners distanziert. Eine Herausforderung.
«Ich sehe mich selbst als Architekt, der ein Haus um Hindernisse und Unregelmässigkeiten in der Landschaft bauen soll. Wenn man das ordentlich macht und es einem gelingt, diese besonderen Umstände als Vorteil zu nutzen, kann man letzten Endes Beachtliches schaffen.»
Kein Wunder also, dass Anscheidt mit seiner Position so zufrieden ist.
«Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Bugatti bringt nur alle zehn Jahre ein neues Modell heraus. Wenn überhaupt. Es ist eine grosse Ehre, der Auserwählte zu sein.»
Kein Zweifel: egal wie schwierig die Aufgabe auch sein mag, dieser Easy Rider ist der richtige Mann für den Job.