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CARAMBOLAGE
YNGVE HOLEN

Editorial  
Yngve Holen Leichtmetallrad, 2017 Autorad, Aluminium auf Kunststoffsockel 56 × 56 × 12,5 cm. Courtesy Yngve Holen Galerie Neu, Berlin Modern Art, London Neue Alte Brücke, Frankfurt

«It’s kind of ridiculous with cars… I mean it’s a stupid concept, you sit in that kind of metal kind of frame, and you’re just driving around, like in a city… and like [suddenly] bump into something… and your perfect curve is like fucked up…» («Das mit den Autos, das ist doch irgendwie lächerlich… Ich meine, es ist ein dummes Konzept; du sitzt in diesem Metallrahmen und fährst so durch die Stadt… und stösst [plötzlich] mit etwas zusammen… und dann ist deine perfekte Kurve im Arsch…»), ziemlich frei übersetzt zwar, aber ungefähr so – oder so ähnlich – sieht Holen das Automobil. Es bleibt offen, ob er mit der «perfekten Kurve» nun das Design des Wagens gemeint oder auf die Fahrkünste der Fahrer:in Bezug genommen hat. Zugegeben, es gäbe wohl definitiv geeignetere Publika­tionen als die vorliegende, um gleich mit einem solchen Quote einzusteigen, also quasi mit der (Auto)tür ins Haus zu fallen. Ich hoffe schwer, Sie verzeihen mir diesen Lapsus. Aber ich kann Ihnen versprechen bzw. Sie bereits jetzt geistig darauf vorbereiten, es kommt noch schlimmer!

Vor knapp sechs Jahren hatte die Kunsthalle Basel eine Ausstellung mit Arbeiten Yngve Holens organisiert. Mein erster Encounter mit Yngve Holens Kunst. Die Schau war damals auch noch während der Art Basel, also Mitte Juni 2016, zu sehen. Entsprechend hoch und international war in besagter Woche das Aufkommen an Besuchenden, die sich die Ausstellung «VERTICALSEATS» anschauen wollten. Der Titel ist ein Verweis auf die Idee von Billig-Airlines wie Ryanair, dass man zukünftig eine noch billigere Art der Beförderung anbieten könnte; Stehplätze im Flugzeug. Dies würde weniger Platz benötigen und mehr Passagiere könnten gleichzeitig reisen. Dies wäre nicht bloss günstiger, sondern auch noch viel besser für die Umwelt, zumindest dann, wenn man den Marketingabteilungen Glauben schenken wollte (Papier bleibt auch in der «digitalen Moderne», in der wir nun leben, geduldig). Diese eher dystopisch anmutende Vorstellung, nämlich die des preisgünstigen Irgendwohin-Stehend-Fliegen, konnte – danke an dieser Stelle für die geltenden EU-Sicherheitsnormen – bis dato nicht in die Realität umgesetzt werden, und wohl auch zukünftig nicht. Doch weiss man es? Viele technische Transformationen wurden in den letzten drei Dekaden real, obwohl wir sie für lange Zeit als ausschliesslich der Kreativität von Science-Fiction-Autor:innen geschuldet ansahen. Seit dem 19. Jahrhundert orientierte sich – verknappt gesagt – der Fortschritt an den realen Bedürfnissen des Menschen und seinem Streben nach Optimierung. Während und mit der blühenden Industrialisierung war dies zwar auch nicht unproblematisch, beispielsweise was die Umwelt anging, aber doch halt eine schöne Sache; so wurden immer mehr Maschinen entwickelt, die u.a. die Handwäsche weitestgehend haben aussterben lassen und somit das tägliche Leben viel leichter wurde. Doch seit geraumer Zeit transformieren wir uns zunehmend analog unserer eigens geschaffenen Technologien. Des Weiteren sind wir zwar alle vehement gegen Überwachung, aber nicht zwingend gegen Beherrschung: So tippen wir freizügig Daten in unsere Smartphones ein, weil das vermeintlich angenehme Leben winkt. Zumindest gehen wir davon aus. Und mit jedem Stück «Freiheit», nimmt auch der Grad an Kontrolle, nämlich die von Dritten über uns, zu.

Installationsansicht VERTICALSEAT Blick auf CAKE, 2016 und Window seat 10–21 A, 2016 Kunsthalle Basel, 2016 Courtesy Yngve Holen Galerie Neu, Berlin Modern Art, London Neue Alte Brücke, Frankfurt/M Foto: Philipp Hänger/KH Basel

Nicht ganz von dieser Welt – und zugleich voll von dieser Welt! – «schauten» sie einem damals in der Kunsthalle Basel direkt in die Augen: die einzelnen blinkenden Lichter und Scheinwerfer von Autos, auf Augenhöhe montiert, als fast schon kinetische Skulpturen an der Wand. Leuchtend, blinkend, teilweise gar arg ins Gesicht blendend. «Herausgeschnitten» und abgetrennt von unseren normalen Sehgewohnheiten. Als wären sie entnommene Organe eines künstlichen Organismus. Ein Anblick, der überfordert, fehlt doch das Ringsherum; das eines Autos nämlich. Dieser Gefühls-Mischmasch bringt Überforderung, Faszination und so was wie Furcht gleichsam mit sich; ein Balanceakt zwischen Anziehung und Abstossung. Ist das nun symbolisch, diese «perfekte Kurve», die, wie Yngve meint, «im Arsch ist, fährst du irgendwo rein»? Vielleicht. Auf jeden Fall sollten wir diesen spezifischen «Aufprall» rekapitulieren, analysieren und mögliche Schäden ermitteln und beziffern, um so mögliche Traumata zu verhindern.

Kommt man nach dieser speziellen visuellen Erfahrung wieder zu sich, ist es diese Ergriffenheit, die einen befällt – und die einen «echten» Yngve Holen ausmacht. Denn plötzlich waren die Grenzen nicht mehr klar, das Vertraute erschien uns beim Anblick der in Serie gehängten Skulpturen (Hater Headlight, 2016) als Vexierbild und unsere gängigen Konventionen des Sehens und Erkennens lösten sich tout à coup nahezu gänzlich in nichts auf. Zumindest in nichts, das wir einordnen können. Es hat vegetativ eine Entgrenzung stattgefunden, der wir schutzlos ausgeliefert waren, es immer noch sind. Irgendwie grotesk und fast schon etwas peinlich berührend; wir kannibalisieren etwas, das wir als Homo Sapiens selbst kreiert haben und das wir täglich – was auch daran liegt, dass wir immer mehr in Städten leben – tausendfach zu sehen kriegen. Und so gehören Autos doch einfach zu unserem Leben, verdammt nochmal! Weshalb also dann diese Reaktion, wenn wir es bloss mit einzelnen Autoscheinwerfern zu tun bekommen!? Nebst der vermeintlichen Tatsache, dass diese anthropomorphen «Augen» uns wirklich anstarren, vielleicht sogar beobachten (wer sagt denn, dass da nicht auch noch eine Kamera mit installiert ist?), macht diese Erfahrung nicht einfacher. Nur kannibalischer eben. Ferner macht es das Generische, das sich hier dem Individuellen verbindet, sowie die industrielle Fertigung des Objekts im Verbund mit dem Organischen, aus, und somit nicht weniger erschreckend. Aber auch nicht weniger faszinierend.

Im hintersten Saal der Kunsthalle Basel präsentierte Yngve Holen es uns dann doch noch, ein ganzes Auto und nicht bloss dessen Frontlichter. Ein Porsche Panamera. In Gänze zwar, jedoch zersägt in vier einigermassen gleich grosse Teile. Einmal horizontal, einmal vertikal; zweimal quer durchgeschnitten. Der Panamera, das Kuchendiagramm unserer Zeit? Fahruntauglich stand der Bolide nun als vierteilige Skulptur im ausladenden Raum. Besagter Fahrzeugtyp steht für den Pimp-Riesen-Porsche schlechthin; ein Kick-Ass-Penisverlängerer sozusagen, der spielend dazu in der Lage ist, seine eigens geschaffenen Clichés zu (über)erfüllen – und umso beschissener solche sind, desto wahrer sind sie meist –, jedoch ebenso als Familienlimousine Verwendung finden kann. Konnte. Beides passt irgendwie nicht so recht zusammen. Auch bei nicht-zersägten Exemplaren. Durch den Akt des Vierteilens wurden auch die Blicke unter die Hülle des Wagens möglich. Die schützende Membran, die Karosserie, wurde so gewaltsam wie von grosser Präzision geprägt, geöffnet und die sonst so PS-starken Elemente im Innern, wie Motor oder Getriebe, lagen gänzlich frei. Ähnlich wie ein Archäologe scheint Holen sich überzeugen zu wollen, dass da auch ist, was von den Herstellenden mal versprochen wurde, zudem scheint er bereits schon für zukünftige Generationen an die einstigen technischen Errungenschaften von heute erinnern zu wollen. Diese Arbeit als reine Konsumkritik zu verschreien, wäre daher viel kurz gegriffen, töricht sogar. Mit Sigmund Freud könnte man natürlich an dieser Stelle jetzt argumentieren; Stichwort Fetisch. Da wäre man wieder beim Penis bzw. dem Neid, wenn man keinen hat. Soweit Freuds Theorie. Aber auch darum gehts Holen, falls denn, nur am äussersten Rande.

Heute – wir schreiben den 11. März 2022 – ist der letzte Tag von Yngve Holens Ausstellung Foreign Object Debris im X Museum in Beijing. Seine erste Einzelausstellung in Asien. Und seine zwölfte Solo Show seit Basel. (O-Ton: Ja, er ist erfolgreich.) Leider war es nicht möglich, die weite Reise nach China zu unternehmen für diesen Text. Lustigerweise bezieht sich auch hier wieder – wie damals in Basel – der Titel der Ausstellung auf die Luftfahrt. Denn Foreign Object Debris, kurz FOD, bezeichnet dort nämlich Objekte, die sich an ungeeigneten Orten befinden und dadurch Schäden verursachen könnten. Ob die Wahl des Titels mit der geografischen Lage des Museums etwas zu tun gehabt hat, lässt sich Yngve nicht entlocken. Was aber Sicher ist dagegen, dass FOD wie als Klammer um seine jahrelange künstlerische Forschung rund um den «Mensch-Maschine-Komplex» sowie dem Paradoxon von Körper und Geist gelesen werden kann. Ferner gesellen sich seit etwa zwei Jahren nebst unzähligen weiteren Sujets sowie den weiterentwickelten Autoteilen – es sind hierbei mittlerweile weniger die Scheinwerfer als die Felgen diverser existierender und teils imaginierter Autos im Fokus – auch heldenhafte Supermänner zu Holens Werken. Diese scheinen über übermenschliche Kräfte zu verfügen und oszillieren zwischen Mensch, Maschine, Reptiloid und Drache. Sie sind wie immer hergestellt worden mittels modernster Herstellungsverfahren. Retten diese Superheld:innen uns vor diesen Objekten, die hier angeblich falsch platziert sind? Vielleicht sogar vor der Konsumwelt selbst oder sind sie, gegenteilig, dafür und somit für unser eigenes Verderben verantwortlich? Werden wir bald sein wie sie? Oder eher wie diese halben Kuhteile, die wahlweise als schwarze Reliefs die Wände zieren oder gedruckt in fotografischer Manier den Boden fleischig erscheinen lassen? Sind wir überhaupt noch biometrisch? Falls ja, vielleicht Freiwild dann, das als leichte Beute dienen soll? Are you really that dystopian, Mr. Holen?

Yngve Holen hat als Meisterschüler 2010 sein Studium der Bildhauerei an der Städelschule in Frankfurt abgeschlossen und fing schon früh an, in seiner Kunst das Alltägliche mit dem Technisch-Industriellen zu verbinden. Seine Arbeit ist beeinflusst und inspiriert von verschiedensten Bereichen; Transport, Sicherheitssystemen, von der industriellen Lebensmitteltechnologie oder auch von der plastischen Chirurgie. Die Quellen sind mannigfaltig, verworren und nicht selten entsprechend «vernerded». Aber seine Werke gehen uns alle etwas an – auch Sie! – ohne, dass Sie das gewollt hätten: Sie hinterfragen nämlich nicht nur die Erscheinungsbilder von Produkten, sondern die (intimen) Beziehungen des menschlichen Körpers zu ihnen sowie zur eigenen subjektiven Wahrnehmung des In- und Extrinsischen. Holens Œuvre umfasst vornehmlich Skulpturen und forschungsbasierte Publikationen, welche die Ersetzbarkeit, die Grenzen und die Vielschichtigkeit des menschlichen Körpers in der Konsumkultur erforschen. Holen kontrastiert dabei traditionelle Materialien wie Metall, Marmor, Glas oder Holz mit modernsten industriellen Ersatzstoffen und Technologien wie Kohlefasern, 3D-Druck oder Wasserstrahlschneiden. Nicht zuletzt durchleuchtet er zeitgenössisches Engineering, indem er selbst zum Ingenieur wird und so – und durch manche Tüftelei, die er gemeinsam mit weiteren Expert:innen aus anderen Feldern vollzieht – nicht selten auf bessere Lösungen kommt als diejenigen, die uns nur allzu oft angedreht werden.

Yngve Holen wird die Arbeit nicht ausgehen. Und unser Interesse ist ihm dabei sicher, so hält er uns immer wieder den Spiegel vor – klar, das wäre wohl eine Kernaufgabe der Kunst, sofern man ihr überhaupt eine Funktion zuschreiben kann – doch Yngves Sicht auf die Welt ist so schonungslos wie voller Poesie und unterstreicht implizit das Explizite in Bezug auf die sich stetig wandelnden gesellschaftlichen und industriellen Phänomene unser Zeit.

VERTICALSEAT Blick auf Hater Headlight, 2016 Kunsthalle Basel, 2016. Courtesy Yngve Holen Galerie Neu Berlin Modern Art, London Neue Alte Brücke, Frankfurt/M. Foto: Philipp Hänger/KH Basel

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